Vorsicht, Sprengung, äh Baustelle! (Bauen in Stockholm)

Bauen mit Lego (Foto: Tina)

In Stockholm sieht es derzeit aus, als wäre eine Horde Biber eingefallen. Überall wird gebaut. Aus der Großstadt kommende Leser werden sich jetzt vielleicht fragen: und? Das ist doch nichts Besonderes. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich aus der Provinz stamme. Ich finde diese riesigen Baustellen total faszinierend. Wie schnell das geht! Jeden Tag komme ich auf dem Weg zur Arbeit am Kista-Messegelände vorbei, wo derzeit das zukünftig höchste Gebäude Stockholms entsteht, der 34 Stockwerke hohe Viktoriatower. Jeden Tag bleibe ich kurz stehen, und bewundere, den Kopf in den Nacken gelegt, den Fortschritt. Im Januar war der Bau kaum höher als die benachbarten Messehallen. Jetzt im März setzen sie in den obersten Stockwerken die Fensterfront ein. Ab und zu sieht man eine Zigarettenkippe wie ein verirrtes Glühwürmchen hinab taumeln. Stößt sie irgendwo an, zerbricht der Lichtpunkt in einem Funkenregen. Das ist übrigens ganz ungefährlich: bis die Kippe unten ankommt, ist sie längst ausgegangen.

Auch bei normalen Baustellen (ich meine von Wohnhäusern) könnte ich stundenlang zusehen. Letztes Jahr wurde bei uns ums Eck ein neues Wohngebiet ausgewiesen. Der Platz, auf dem die Häuser entstehen sollten, war eine typisch schwedische mit Bäumen bewachsene Felsenlandschaft. Ich war extrem gespannt, wo sie in dieser Wildnis ein Haus hinstellen wollten. Ich hätte da nicht mal Platz gefunden, einen Fußball hinzulegen, ohne daß der wegrollt.

Mit kamen beinahe die Tränen, als die Bäume gefällt und die Sträucher abgeschnitten wurden. Die nackten Felsen lagen schutzlos an der Oberfläche, fragten sich, wo Ihre Freunde, die Kiefern hin waren und dachten wohl, ihnen könne kein schlimmeres Schicksal widerfahren. Sie irrten sich. Am nächsten Tag lagen schwarze Matten im Eingang der Baustelle. Sie ähnelten aufgeschnittenen Autoreifen, waren aber deutlich dicker. Sprengmatten!

In der Schule habe ich gelernt, Nobel hätte das Dynamit erfunden, um es im Berg- und Strassenbau einzusetzen. Ich dachte damals, der Typ hätte einen seltsamen, kranken Humor. Falsch! Der war nicht verrückt, der war Schwede. Der Untergrund Schwedens besteht aus Granit oder Gneis, und dem kommt man ohne schwere Geschütze nicht bei. Die schwedische Antwort hierfür lautet: Dynamit!  Wasserrohre verlegen? Dynamit! Straßenausbau? Dynamit! Neue Ubahn gefällig? Dynamit! In manchen Ubahnhaltestellen sieht man immer noch vereinzelt kreisförmige, ca 3 Zentimeter große Löcher. Das sind Sprenglöcher.

Wenige Tage später war von der majestätischen Felsengruppe nur noch ein Haufen staubiger Trümmer übrig. Diese wurden abtransportiert, einem ungewissen Schicksal (Strassensplit? Steingarten?) entgegen. Zurück blieb eine leere ebene Fläche.

In Deutschland bauen Leute manchmal in Eigenregie. Das kommt in Stockholm so gut wie nie vor. Die Sprengungen wären einfach zu kostenintensiv für eine Privatperson. Stattdessen liegt in Stockholm der Wohnungsbau fast ausschließlich in der Hand von professionellen Investoren, die meist mehrere Gebäude gleichzeitig bauen und die fertigen Wohnungen schlüsselfertig, tapeziert und mit Einbauküche als Eigentumswohnungen verkaufen.

Aber zurück zur Baustelle. Auf der Fläche wurde zunächst das Fundament gegossen. Das ist kein Problem. Der Vorteil von Granit ist, dass man mit dem Fundament keinen Aufwand betreiben muss. Ein paar Zentimeter Beton, um Unebenheiten auszugleichen, reichen völlig. Keller gibts übrigens meistens nicht. Wäre zuviel Aufwand (wobei gilt: Aufwand = Dynamit).

Als nächstes wird das Dach zusammengesetzt……Ja, ich dachte auch, ich sehe nicht richtig. Auf dem Fundament wird direkt das Dach errichtet. Und dann wird das Gebäude errichtet. Hierfür wird jeden Tag das Dach entweder demontiert (wenn es grösser ist) oder mit einem Kran einfach ”weggehoben”. Zu dem ”warum” komme ich in einer Sekunde. Zuerst will ich ein Wort zu dem ”Zusammenbauen der Teile” sagen. Haben Sie als Kind mit Lego gespielt? Glückwunsch, damit wären Sie als Bauleiter in Schweden optimal qualifiziert. Die meisten Häuser hier sind Fertighäuser. Nicht nur die Einfamilienholzhäuser (zum Beispiel von Ikea, und mich würde echt mal interessieren, was DIE unter ”schlüsselfertig” verstehen), sondern auch Mehrfamilienhäuser, Bürogebäude, sogar Hochhäuser. Die Bauelemente haben unterschiedliche Grösse, von einer Bodenplatte bis hin zu ganzen Räumen ist alles möglich- ich hab ein Badezimmer an einem Kran hängen sehen. Sind die Teile an ihrem Platz, werden sie mit Stahlklammern verbunden. Diese in Fertigbauweise entstandenen Gebäude können innerhalb von Tagen hochgezogen werden. Das Ergebnis erinnert mich ein wenig an die Plattenbauten in Halle. Oder an meine alte Legoburg. Fehlt nur die Zugbrücke!

Aber wieso bauen die erst das Dach und dann das Gebäude? Hier gilt dasselbe wie für Nobel: die sind nicht verrückt. Es gibt einen sehr guten Grund für diese auf den ersten Blick sinnlos erscheinende Taktik. Schweden hat lange, kalte Winter. Nur das Fundament muss vor dem Frost gegossen sein, da die übrigen Häuserteile fertig verbaut werden. Problematisch wird es, wenn die Einzelteile während dem Montieren nass werden. Und um das zu verhindern, wird die gesamte Baustelle jeden Tag mit den Dachelementen abgedeckt. Einfach, aber eigentlich genial.

Ein Nachtrag: letzte Nacht hab ich geträumt, Biber hätten den Viktoriatower besetzt. Sie hatten die Zugbrücke hochgezogen, und bewarfen alle Passanten mit Dynamit. Das Gebäude wurde zurückerobert- nachdem mit einem IKEA-Schlüssel die Zugbrücke geknackt wurde (drei Schrauben fehlten). Ich sollte echt nicht mehr direkt vor dem Schlafengehen schreiben und gleichzeitig Dr. Who schauen….

Autor(in): Tina Skupin – tskupin32@gmail.com

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