Lördagsgodis – Naschen nur am Sonnabend erlaubt!

Diese Regel ist auch heute noch den meisten Kindern in Schweden vertraut, auch wenn sie nicht mehr so streng gehandhabt wird. Sie hat ihren Ursprung in den Anfängen des Wohlfahrtstaates in den 30er und 40er Jahren. Der überwiegende Teil der Bevölkerung litt damals an Karies. Bei der Gesundheitsuntersuchung zur Einschulung wurde bei fast allen Kindern Karies festgestellt, und bei den zum Militärdienst gemusterten jungen Männern sah es nicht besser aus. Es war ein Problem, das dem Streben des Staates nach allgemeiner Gesundheitsfürsorge im Wege stand und auch eine finanzielle Belastung für den Staat darstellte. Die Kariesursache war damals jedoch weltweit noch unerforscht.

Im Auftrag des Sozialministeriums wurde daher zwischen 1943 und 1960 eine groß angelegte Studie durchgeführt. Sie ist heute in Schweden unter dem Namen ‚Sockerförsöket‘ (Der Zuckerversuch) oder Kariesexperimenten (Die Kariesexperimente) bekannt. Versuchspersonen waren mehrere hundert Einsassen einer der größten Anstalten für geistig Behinderte des Landes, die Vipeholm-Anstalt in der Lund. Nachdem erste Versuche u. a. mit Vitaminzusätzen den Kariesbefall nicht wie erhofft eindämmten, ging man zu einem anderen Versuchsmodell über: Die Versuchspersonen wurden in verschiedene Gruppen eingeteilt. Einige erhielten Spezialnahrung, andere dienten als Kontrollgruppen.

Die Wissenschaftler nahmen an, dass Kohlenhydrate Hauptverursacher von Karies sei. Unter den Gruppen mit Spezialnahrung befanden sich wiederum einige, die täglich Unmengen Süßigkeiten erhielten, vor allem Karamelbonbons. Die Süßwarenindustrie sponserte zeitweise den Versuch mit einem speziell angefertigten, extrem klebrig-zähem Bonbon, dem sog. Vipeholm-Toffee. Monatelang verzehrten die Versuchspersonen davon täglich große Mengen. Zähneputzen, damals sowie noch nicht üblich, war nicht erlaubt. Regelmäßige zahnärztliche Kontrolle und wissenschaftliche Dokumentation waren gewährleistet. Auf diese Weise konnte man feststellen, dass Karies durch Zuckeraufnahme hervorgerufen wird.

Diese Erkenntnis ermöglichte der Regierung, gezielte Vorsorgemaßnahmen durchzuführen. Es wurden Empfehlungen für regelmäßiges Zähneputzen gegeben. In den 60er und 70er Jahren kamen wöchentlich ‚Fluor-Tanten‘ in die Schulen, unter deren Anleitung die Kinder ihre Zähne mit Fluorwasser spülten. Auch für das Naschen von Süßigkeiten gab Vater Staat eine klare Empfehlung: wenn die Kinder schon Süßes bekommen sollten, dann nur einmal wöchentlich. Was lag näher als den Sonnabend zu wählen, den Tag, an dem das Familienwochenende  begann und außerdem Familienabend mit dem lange Zeit einzigen Fernsehkanal angesagt war. So wurde ‚lördagsgodis‘ für Generationen von Kindern ein fester Begriff. Auch heute noch kann man im Supermarkt beim Freitagseinkauf hören, wie Kinder ihre Eltern an ihre Tüte lördagsgodis erinnern.

Jahrzehnte später, um 2000 herum, wurde in Schweden eine teilweise
erbitterte forschungsethische Debatte geführt, da die Versuchspersonen
geistesgestörte, für unmündig erklärte Personen gewesen waren, auch eine Einwilligung der Angehörigen war nie eingeholt worden. Diejenigen, die diese Versuche jetzt als unmenschlich verurteilten, legten moderne ethische Maßstäbe an. Die Vipeholm-Studie gilt heute als klassisch. Sie half Zahnärzten weltweit, Kariesursachen zu erkennen und entsprechende
prophylaktische Maßnahmen durchzuführen.

(Autor: Astrid Deppert)

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